Homepage von Dr. Viktor Krieger

 

Autonomiebewegung der Russlanddeutschen in Kontroversen

 

Dr. Viktor Krieger hatte sich schon in der Sowjetunion den Ruf eines anerkannten Historikers und pointierten Publizisten verdient. Seine fundierten Forschungen zur Vergangenheit der Deutschen im Russischen Reich bzw. in der UdSSR sowie zahlreiche Publikationen zur gegenwärtigen Lage der Volksgruppe sorgten nicht selten für rege Diskussionen in den Medien.

Seine vor kurzem erschienene Studie „Kontroversen über Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen in der Sowjetunion der Jahre 1986-1991“ ist eine Mischung aus persönlichen Eindrücken und nachträglicher Analyse der damaligen Auseinadersetzungen um die nationale Geschichte und aktuelle Situation der Volksgruppe. Dabei widersteht der Autor der Versuchung, seine damaligen Überzeugungen nachträglich zu korrigieren und räumt freimütig diese oder jene Fehleinschätzung ein. Zur Zeit ist diese Untersuchung im INTERNET zum Lesen und Besprechen unter www.viktor-krieger.de/html/hauptseite.html zugänglich. Darüber hinaus enthält diese Homepage zahlreiche Abhandlungen, die seinerzeit geschrieben und teilweise auf russisch oder deutsch publiziert wurden. Unser Korrespondent Josef Schleicher sprach mit Dr. Viktor Krieger über seine aktuelle Arbeit.

 

Herr Krieger, was ist die wichtigste Botschaft Ihres neuen Werkes?

 

Krieger: Vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen versuche ich nachzuzeichnen, was viele Menschen in diesen Umbruchsjahren bewegt hat. Es geht um die Entstehung der politischen Mobilisierung der Russlanddeutschen während der Perestrojka. In ihrer überwiegenden Mehrheit waren sie zu jener Zeit nicht mehr bereit, die fortdauernden Benachteiligungen im soziokulturellen oder politischen Bereich widerspruchslos hinzunehmen. Im Mittelpunkt standen vor allem die Forderungen zur Wiederherstellung der autonomen Republik.

 

Ihrer Studie nach zu urteilen, wurde Ihr Interesse für die Geschichte des eigenen Volkes während der Arbeit in Nowosibirsker Akademgorodok geweckt

 

Krieger: Tatsächlich, die Beschäftigung am Institut für Wirtschaftsforschung der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften (AdW) der UdSSR in den Jahren 1983-87 war eine spannende Zeit, die mich intellektuell geprägt hat. Die 1957 gegründete Sibirische Abteilung der AdW mit ihrem Zentrum in Nowosibirsk, genauer gesagt im etwa 20 km vom Stadtkern entfernten Akademgorodok, erzeugte eine Aufbruchsstimmung und schaffte größere geistige Freiräume, als es selbst in Moskau oder Leningrad (St. Petersburg) der Fall war. Nicht von ungefähr wirkten ausgerechnet hier die Vordenker der Perestrojka, die Soziologin Tatjana Saslawskaja und der Ökonom Abel Aganbegjan. Ihre Ideen und Analysen machten auf mich einen bleibenden Eindruck, um so mehr, weil die beiden Wissenschaftler an unserem Institut tätig waren und man jede Gelegenheit genutzt hatte, ihren Auftritten bei internen Versammlungen, Vorträgen oder Seminaren beizuwohnen. Allein die Atmosphäre des akademischen Liberalismus, ein ständiger Meinungsaustausch mit bekannten Wissenschaftlern, regelmäßige Kontakte mit ausländischen Kollegen, die am Institut weilten und Gastvorträge hielten, lebhafte Diskussionen über soziale, ökonomische oder ethnische Widersprüche der Gesellschaft des „entwickelten Sozialismus" schufen ideale Voraussetzungen für kritische Auseinandersetzungen mit der offiziellen Ideologie und führten in letzter Konsequenz zum Entstehen des politischen Dissidententums. Das alles regte mich dazu an, das Problem der deutschen Minderheit im breiten Kontext der Nationalitätenpolitik des sowjetischen Staates zu betrachten

 

Was waren aus Ihrer Sicht die Hauptgründe der Massenauswanderung nach Deutschland seit Ende der 1980er Jahre? War es der Wunsch „als Deutscher unter Deutschen leben zu dürfen“ oder mehr die Aussicht auf wirtschaftliche Vorteile, wie in den meisten Forschungsarbeiten behauptet wird?

 

Krieger: Wenn die Sowjetunion bzw. die Nachfolgestaaten der einstigen UdSSR, insbesondere die Rußländische Föderation, den „eigenen“ Deutschen nicht die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie anderen Nationalitäten einräumte, wenn zahlreiche Verbrechen an dieser Minderheit nicht schonungslos verurteilt wurden, wenn keine Entschädigung der Betroffenen stattfand und die Germanophobie nicht konsequent bekämpft wurde, dann ist die Auswanderung in erster Linie ein sichtbares Zeichen der nationalen Selbstachtung und des Protestes, ein Ausdruck des Strebens nach Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit.

 

Eine der zentralen Thesen ihres Buches lautet, dass die hartnäckige Weigerung der sowjetischen/russischen Partei- und Regierungsführung, die Russlanddeutschen politisch vollständig zu rehabilitieren und sie de fakto als gleichberechtigte Volksgruppe anzuerkennen, im Wesentlichen auf den hohen Mobilisierungswert der germanophoben Propaganda zurückzuführen sei.

 

Krieger: Von klein auf wurde den Sowjetbürgern über Literatur und Presse, über Fernsehen und Filme, über Theaterstücke und Kunstwerke sowie bei persönlichen Begegnungen mit Kriegsteilnehmern etc. ein überwiegend negatives Bild von den Deutschen bzw. von deutscher Geschichte vermittelt. „Deutsch“ setzte man Jahrzehnte lang praktisch mit „faschistisch“ gleich. Die Moskauer Führung verstand es meisterhaft, die offene und unterschwellige Germanophobie als ein wichtiges Mittel zur Stabilisierung der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft einzusetzen. Der „jahrhundertlange Kampf der slawischen Völker gegen den deutschen ‚Drang nach Osten‘“, die „ungeheuren menschlichen und materiellen Verluste während des Kampfes mit dem faschistischen Deutschland“, die Rolle der deutschsprachigen Minderheiten als „fünfte Kolonne“, die fortdauernden „Umtriebe der Revanchisten“ sowie die kriegslüsternen „westdeutschen Politiker“ -  das alles und einiges mehr in dieser Richtung förderten eine Bunkermentalität, rechtfertigten ein niedriges Lebensniveau und hohe Militärausgaben.

Eine territoriale Autonomie hätte die Wirkung solcher Feindbilder zweifellos eingeschränkt: man wäre gezwungen, differenzierter über die Deutschen reden zu müssen. Es hätten sogar Zweifel an der Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung oder an der territorialen Neuordnung im Zweiten Weltkrieg entstehen können, wenn man diesbezüglichen eigene Fehler zugeben hätte. So forderte z.B. der tschechoslowakische Verteidigungsminister, General Ludvik Svoboda, im August 1945 unter anderem mit Verweis auf die von der Sowjetregierung 1941 angeordnete Deportation der Wolgadeutschen, die Vertreibung der Sudetendeutschen.

Allerdings scheint eine große Mehrheit der russischen Bevölkerung und der Führungsschicht des Staates bis heute das Gefühl zu haben, dass eine vollständige Wiederherstellung der Rechte dieser Volksgruppe ihrem nationalen Empfinden widersprechen und sogar den Triumph des errungenen Sieges über die “Deutschen” schmälern würde.

 

Könnte es sein, dass aus diesem Grund auch die Geschichte der deutschen Minderheit in der Sowjetunion praktisch totgeschwiegen wurde?

 

Krieger: Die Tatsachen sprechen dafür. Die Aufklärung der Vergangenheit „sowjetischer Bürger deutscher Nationalität” stellte aus der Sicht von Stalins Nachfolgern eine Gefahr dar, weil dadurch das sorgsam gepflegte Geschichtsbild der „ewigen“ deutsch-russischen oder deutsch-slawischen Feindschaft sich aufzulösen drohte. Anstatt ehrlich und offen über die haltlosen Beschuldigungen der eigenen deutschen Mitbürger zu reden und die Bevölkerung der Sowjetunion im Geiste der Toleranz und der gegenseitigen Achtung aufzuklären, setzte die Parteipropaganda und das KGB gezielt Verleumdungen in die Welt. In der sowjetischen Bevölkerung geisterten Gerüchte über Waffenlager und Aufstandsgruppen, feindliche Fallschirmspringer und Diversanten, Spionen und Schädlinge unter den einheimischen Deutschen, obwohl sich die zahlreichen geheimen Strafprozesse mit derartigen Anklagepunkten bereits zu Chruschtschow-Zeit Ende der 1950er – Anfang der 1960er Jahre als falsifiziert erwiesen, und alle darin verurteilten Personen rehabilitiert wurden.

Es war fast eine einmalige Erscheinung im sowjetischen Vielvölkerstaat, dass eine Ethnie, die über eine reichhaltige Historiographie verfügte, jahrzehntelang so konsequent zu einem geschichtslosen Menschenhaufen degradiert wurde. Bis Ende der 1980er Jahre durfte z.B. über die Wolgadeutschen lediglich ein einziger wissenschaftlicher Aufsatz in russischer Sprache erscheinen. Bezeichnend ist auch das Schicksal des ehemaligen Zentralen Staatlichen Archivs der Wolgadeutschen Republik. Obwohl nach dem Krieg zur Zweigstelle Engels des Gebietsarchivs Saratow herabgestuft, bewahrte diese Dokumentensammlung einen beachtlichen Fundus von Zeugnissen zur Vergangenheit der deutschen Minderheit auf. Aber diese Bestände blieben für die Öffentlichkeit und Wissenschaft verschlossen; wer den Zugang zu den Archivquellen ersuchte, wurde sofort der antisowjetischen Gesinnung verdächtigt. Das fast fünfzig Jahre andauernde staatliche Verbot, die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen zu erforschen, beschädigte nachhaltig die nationale Identität dieser Minderheit

 

Wie erklären Sie dann die ziemlich aufgeschlossene und verständnisvolle Haltung der offiziellen Massenmedien und der Geschichtsschreibung gegenüber der DDR-Bevölkerung?

 

Krieger: Zwischen der wohlwollenden Berichterstattung über die DDR und der negativ-verschwiegenen Stellung gegenüber den „eigenen“ Deutschen bestand nur ein vermeintlicher Widerspruch. Aus der Sicht der „Realpolitiker“ im Kreml war diese offensichtliche Schieflage, von der russlanddeutschen Öffentlichkeit stets als eine herausfordernde Brüskierung empfunden, vollkommen in Ordnung. Moskau spielte seinen Satelliten gegen den westdeutschen „Revanchismus- und Militarismusstaat“ aus. Andererseits gefiel sich die Sowjetunion in der Rolle des Befreiers des deutschen Volkes vom Faschismus und des weisen Führers hin zu den humanistischen Idealen des Sozialismus und Kommunismus. Man pflegte einen nachsichtigen Umgang mit den zahlreichen Vertretern des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, die in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern zu glühenden Antifaschisten mutierten. In den Augen der ostdeutschen „Werktätigen“ sollte der Sowjetstaat und in erster Linie das russische Volk die Vorhut der fortschrittlichen Menschheit auf dem Weg in die lichte kommunistische Zukunft stellen: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“ Die öffentlich deklarierten guten Beziehungen zur DDR hinderten allerdings in keiner Weise eine dezidierte antideutsche Propaganda im eigenen Land.

Viel komplizierter gestaltete sich in der Sowjetunion der Umgang mit den Nachkommen der bäuerlichen Einwanderer des 18.-19. Jahrhunderts. Aus der Rolle des Lehrmeisters und strahlenden Siegers hätte das Regime in die des reuigen Sünders übergehen müssen. Damit würde man sich in eine wenig schmeichelhafte Situation begeben,  sich zu den begangenen Verbrechen zu bekennen und Wiedergutmachung zu leisten. Und das ausgerechnet gegenüber den Deutschen, sollten sie auch die Vorsilbe „Sowjet-“ tragen.

 

Ein Großteil der bundesdeutschen Politiker ist derzeit der Auffassung, dass zumindest in der Rußländischen Föderation (RF) die deutsche Volksgruppe keinen Diskriminierungen im Vergleich zu den anderen Völkern ausgesetzt ist. Teilen Sie diese Einschätzung?

 

Krieger: Nach wie vor sind die nationalen Minderheiten in der RF ohne territoriale Autonomie im Vergleich zu den Titularvölkern im politischen und kulturellen Bereich stark benachteiligt. Ein wichtiges Beispiel wäre in diesem Fall das Problem der Berücksichtigung von legitimen nationalen Interessen. Nur territoriale Subjekte haben das Recht, in den Föderationsrat (zweite Kammer des Parlaments) je zwei Vertreter zu entsenden. Somit können auf der höchsten Staatsebene nicht nur regionale, sondern auch ethnische Problemlagen der „autonomisierten“ Völker erörtert und ihre Lösung verlangt werden. Zum anderen gewährt der Artikel 68, Abs. 2 der Verfassung nur den nationalen Republiken das Recht, die Sprache der namensgebenden Nation zur Staatssprache neben der russischen auf ihrem Territorium zu erklären. Die Sprache und somit die Kultur der Statusvölker erfährt demzufolge eine staatliche Förderung und Unter-stützung. Das betrifft nationale Museen und Theater, muttersprachiges Bildungs-, Zeitungs-, Verlags-, Funk- und Fernsehwesen, historische und ethnographische Forschungszentren, Denkmalpflege etc., um nur einige kulturelle und identitätsstiftende Institutionen zu nennen. Nicht zuletzt besitzen die territorialen Subjekte weitgehende Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf die Nutzung der lokalen Bodenschätze und in der Steuergesetzgebung.

Deswegen verfügen z.B. die Kalmücken, Jakuten oder Osseten als Titularnationen mit eigenem Territorium über wesentlich mehr Möglichkeiten, ihren legitimen wirtschaftlichen, politischen oder sprachlich-kulturellen Forderungen Gehör zu verschaffen - sowohl durch ihre Vertreter und Abgeordneten in Moskau als auch auf lokaler Ebene - als die zwar zahlenmäßig größere, aber verstreut lebende und dazu noch „territoriallose“ deutsche Minderheit. So wird das Ausmaß der ethnischen Ungleichheit in der heutigen RF ersichtlich.

 

Ihre Studie „Russlanddeutsche Geschichte in der Kontroverse 1986-1991“ ist nur auf Deutsch zugänglich. Denken Sie auch an eine russischsprachige Fassung?

 

Krieger: Die Übersetzung ins Russische soll im September dieses Jahres erscheinen. Außerdem ist vorgesehen, einige nur in russisch angefertigten Manuskripte bzw. publizierte Texte teilweise ins Deutsche zu übertragen. Dadurch soll einem möglichst breiteren Leserkreis hierzulande ein realitätsnaher Einblick in die geschichtlichen und politischen Streitfragen jener Zeit gewährt werden.

 

Dr. Krieger, ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

Zur Person: Dr. Viktor Krieger, geboren 1959 im Gebiet Dschambul, Kasachstan. Studierte in Nowosibirsk, danach war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter eines akademischen Instituts in Nowosibirsk und als Hochschullehrer in der Stadt Dschambul tätig. Promovierte über deutsche Siedler in der kasachischen Steppe und in Turkestan vor der „Oktoberrevolution“. Seit August 1991 in Deutschland. Nach den beruflichen Stationen im Generallandesarchiv Karlsruhe und am Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart nahm er am Projekt über die Russlanddeutschen in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern während und nach dem 2.Weltkrieg teil, das von der Volkswagen-Stiftung finanziert wurde. Als Lehrbeauftragter am Seminar für Osteuropäische Geschichte, Universität Heidelberg forscht und lehrt er über zentrale Probleme der Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert.

 

Gekürzte und leicht abgeänderte Fassung erschien in:

Volk auf dem Weg (Stuttgart), 8-9/2004, S. 22-23.